GxP & IT-Praxistipps für den Mittelstand | Blog Christof Layher

Compliance ist kein Unternehmenszweck - wie du Regulatorik wieder nutzbar machst (statt sie zu verwalten)

Geschrieben von Christof Layher | Dec 21, 2025 2:45:00 PM

Regulatorik ist nicht das Problem.

Das Problem ist, was wir daraus machen.

In Life Science haben wir alle die gleichen Reflexe: Annex 11, SOPs, Validierung, Change Control, Abweichungen, CAPAs. Das volle Programm. Und ja - Annex 11 ist real, der existiert seit Jahren, und er fordert ziemlich klar, dass computergestuetzte Systeme unter GMP kontrolliert, risikobasiert und validiert betrieben werden. Public Health

Nur: Zwischen "sicher und compliant" und "wir bauen ein internes Papier-Universum" liegt ein Unterschied. Und genau da wurde das Gespraech mit Conny spannend.

1) Externe Referenz vs. interne Referenz - der Moment, wo es kippt

Conny hat ein sauberes Bild geliefert:

  • Die externe Referenz (Gesetz, Leitfaden, Aufsicht) hat meist einen sinnvollen Kern: Schutz von Menschen, Schutz von Patienten, Schutz von Daten, Schutz von Geld.

  • Die interne Referenz entsteht, weil Organisationen das uebersetzen muessen: SOPs, Work Instructions, Checklisten, Template-Pflichtfelder, Signaturketten.

Und irgendwann kippt es. Dann wird nicht mehr geprueft, ob die interne Referenz noch den externen Zweck bedient - sondern nur noch, ob sie lueckenlos bedient wird.

Das ist der Punkt, an dem Compliance zur Ersatzreligion wird:
Nicht mehr "Wozu?" - sondern "Steht es so im Template?"

2) Der haeufigste Intended Use in regulierten Umfeldern

Offiziell steht vorne in Dokumenten gerne sowas wie: "Dient der Sicherstellung von Datenintegritaet" oder "zur Gewaehrleistung von Produktqualitaet".

Inoffiziell steht dahinter oft ein anderer Intended Use:

"Ich will spaeter beweisen koennen, dass ich keinen Fehler gemacht habe."

Das ist menschlich. Und systemisch. Und es macht Organisationen langsam.

Wenn du nur noch dokumentierst, um dich zu entlasten, dokumentierst du nicht mehr fuer Qualitaet - sondern fuer Rueckwaertssicherheit.

3) Der Trick, der alles veraendert: Nutzen sichtbar machen

Conny hat etwas gesagt, das in Life Science eigentlich jeder mal hoeren muesste:

Regulatorik ist da. Du kriegst sie nicht weg. Aber du bist nicht gezwungen, sie wie ein Leidensprojekt zu behandeln.

Das klingt banal - ist es aber nicht. Denn sobald Fuehrung staendig "Regulatorik nervt" in den Raum stellt, baut sie ein System, das genau das bestaetigt: genervte Menschen, Minimalismus, Zynismus, Dienst nach Vorschrift.

Die Gegenbewegung ist nicht "mehr Disziplin".
Die Gegenbewegung ist: Nutzen explizit machen.

Beispiele, die in der Folge aufkamen und die in GxP sofort ziehen:

  • Dokumentation als Reflektionshilfe: Beim Aufschreiben merkst du, wo dein Prozess Unsinn produziert.

  • Dokumentation als Kommunikationswerkzeug: Onboarding, Uebergaben, Eskalationen - alles wird einfacher, wenn du nicht bei Null anfaengst.

Und ja: auch "Audit-Bestand" ist ein Nutzen. Nur sollte das nicht der einzige sein.

4) Was aktuelle Leitlinien-Entwicklungen zeigen

Viele in der Branche tun so, als waere "die Regulatorik" ein Monolith. Ist sie nicht. Sie entwickelt sich.

Beispiel EU GMP Annex 21 (Importation of medicinal products): Der ist 2022 als neuer Annex veroeffentlicht worden und ist seit August 2022 in Kraft. 

Warum erwaehne ich das in einem Artikel ueber Mindset?
Weil genau daran klar wird: Es kommt immer wieder etwas dazu. Wenn dein internes System jetzt schon ueberlaeuft, wird es mit jedem neuen Annex nur schlimmer.

Und auch im Validierungs-Umfeld tut sich was: GAMP 5 (Second Edition) wurde im Juli 2022 veroeffentlicht.
Allein diese Aktualisierung ist ein Reminder: Wir muessen Compliance faehig machen - nicht schwerer.

5) Fuehrung im regulierten Umfeld ist Systemdesign

Ich halte das fuer den Kern der Folge:

Fuehrung ist nicht, neue Regeln draufzuwerfen.

Fuehrung ist, ein System zu bauen, in dem Menschen gute Entscheidungen treffen koennen - auch unter Aufsicht.

Drei Fragen, die ich in regulierten Teams haeufig nutze (und die Conny im Geiste absolut unterstuetzt hat):

  • Welche externe Referenz bedienen wir hier eigentlich?

  • Welche interne Referenz haben wir draus gemacht - und warum?

  • Woran wuerden wir merken, dass wir uebers Ziel hinausschiessen?

Wenn du diese Fragen regelmaessig stellst, passiert etwas Interessantes:
Du entmuellst nicht nur Dokumente. Du entmuellst auch Denkweisen.

6) Konstruktivismus als praktisches Werkzeug

Im Podcast ging es auch um radikalen Konstruktivismus: "Ich sehe Welt, wie ich funktioniere."

Uebersetzt in Life Science heisst das:
Wenn ich staendig das System als Gegner sehe (Auditor, Inspector, QA), spiele ich automatisch Verteidigung - und erzeuge genau die Reibung, die ich verhindern will.

Wenn ich das System als Partner sehe, der blinde Flecken sichtbar macht, veraendert sich mein Verhalten - und damit oft auch der Verlauf von Audits und Inspektionen.

Wer tiefer einsteigen will: Das Buch, das Conny stark gepraegt hat, ist "Wahrheit ist die Erfindung eines Luegners" (Poerksen/von Foerster). carl-auer.de

Video zum Talk:

https://youtu.be/lq_KSfg8tUM

 

Zum Mitnehmen

Regulatorik schuetzt Menschen.

Aber interne Regelwerke schuetzen oft zuerst: uns selbst.

Wenn du das drehst - weg von "Hauptsache nachweisbar" hin zu "nachweisbar UND nuetzlich" - dann wird Compliance ploetzlich wieder das, was sie sein sollte:

ein Werkzeug. Kein Unternehmenszweck.